Hochschulrecht (neue Entscheidungen)

Präsenzpflicht (passive Teilnahme) als Studienleistung: VGH BW, U. v. 21.11.2107 – 9 S 1145/16

Der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg hat am 21.11.2018 ein Urteil zur Bestimmtheit einer universitären Prüfungsordnung für den Fachbereich Politikwissenschaften der Universität Mannheim gefällt, dessen Bedeutung weit über sich hinausweisen könnte. Es hält es für rechtswidrig, wenn nicht hinreichend bestimmt vom zuständigen Gesetzes- oder Satzungsgeber geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen die Studienleistung der Präsenz resp. (passiven) Teilnahme als „nicht bestanden“ angesehen werden kann.

So dürfte auch die Freie Universität Berlin, jedenfalls im gleichen Studiengang (Monobachelor Politikwissenschaften) das gleiche Problem haben. Auch hier enthalten das Berliner Hochschulgesetz und die Rahmenstudien-Prüfungsordnung keine ausreichenden Regelungen (anders etwa: § 64 Abs. 2a Landeshochschulgesetz NRW, in dem es heißt: „Eine verpflichtende Teilnahme der Studierenden an Lehrveranstaltungen darf als Teilnahmevoraussetzungen für Prüfungsleistungen nicht geregelt werden, es sei denn, bei der Lehrveranstaltung handelt es sich um eine Exkursion, einen Sprachkurs, ein Praktikum, eine praktische Übung oder eine vergleichbare Lehrveranstaltung). Zwar heißt es in der Rahmenstudien und Prüfungsordnung der FU in § 9 Abs. 1:In Lehrveranstaltungen der Freien Universität Berlin gibt es keine generelle Anwesenheitspflicht; … Sofern die Pflicht zu regelmäßiger Teilnahme in einer oder mehreren Lehrveranstaltungen eines Moduls besteht, muss dies in der jeweiligen Prüfungsordnung geregelt werden.In Absatz 2 heißt es weiter: „Eine regelmäßige Teilnahme – sofern diese in einer Prüfungsordnung verlangt wird – liegt vor, wenn mindestens 85 % der für die Lehrveranstaltungen vorgesehenen Präsenzstudienzeit besucht worden sind. Darüber hinaus kann eine höhere oder geringere Präsenzquote als 85 % vorgesehen werden. Die Präsenzquote darf nicht geringer als 75 % sein.“ Aus den zutreffenden Gründen der hier vorgestellten Entscheidung aus BW ist diese Regelung unbestimmt. Der Fachbereich hat eine Studien- und Prüfungsordnung erlassen, die in einer Anlage mit Modulbeschreibungen und vorangestellten Erläuterungen eine „Präsenzpflicht“ oder „Pflicht zur regelmäßigen Teilnahme“ als Voraussetzung für den Erwerb der dem jeweiligen Modul zugeordneten Leistungspunkte vorsieht, aber keine weitere Regelung dazu. Die Ausfüllung, wie etwa die 85 % zustande kommen, bleibt den Dozent*innen überlassen. Danach könnte ein*e Studierende*r z.B. schon die Präsenzpflicht nicht erfüllen, wenn sie*er durch Zuspätkommen oder Frühergehen weniger als 85 % der Zeit anwesend ist. Ungeklärt sind Krankheitsfälle u.ä.

Im vom VGH BW zu beurteilenden Fall hieß es in § 13a Abs. 3 Satz 2 der streitigen Prüfungsordnung im Bachelorstudiengang Politikwissenschaften der Universität Mannheim (PO) u.a., dass als Studienleistungen auch die Präsenzpflicht sowie die hinreichende Teilnahme an Lehrveranstaltungen und Studien festgesetzt werden könnten. Ein Studierender des Studiengangs hatte dagegen einen Normenkontrollantrag beim VGH anhängig gemacht. Der VGH gab dem Antrag statt und befand, dass die Regelung in einer universitären Prüfungsordnung, wonach als Studienleistungen auch die Präsenzpflicht sowie die hinreichende Teilnahme an Lehrveranstaltungen und Studien festgesetzt werden könnten, den verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsanforderungen nicht gerecht würden.

Zur Begründung führte der VGH aus, Studienleistungen seien nach der streitigen Prüfungsordnung individuelle Leistungen, die vom Prüfer mit „bestanden“ oder „nicht bestanden“ bewertet würden. Jedenfalls sei § 13a Abs. 3 Satz 2 PO inhaltlich nicht hinreichend bestimmt. Das aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG abgeleitete Gebot der Bestimmtheit von Normen verlange, dass Rechtsvorschriften so gefasst sein müssten, dass der Betroffene seine Normunterworfenheit und die Rechtslage so konkret erkennen könne, dass er sein Verhalten danach auszurichten vermöge. Die Anforderungen des Bestimmtheitsgebots wüchsen mit der Intensität der Einwirkungen auf die Regelungsadressaten. Je schwerwiegender die Auswirkungen einer Regelung seien und je intensiver der Grundrechtseingriff sei, desto genauer müssten die Vorgaben des Normgebers sein.

Die Festsetzung einer Präsenzpflicht als Studienleistung betreffe die Rechtspositionen verschiedener Rechtsträger, nämlich der Studierenden, der Hochschullehrer und der Universität. Für die Studierenden stelle die Festsetzung einer derartigen Anwesenheitspflicht einen Eingriff in ihre verfassungsrechtlich streitige Lern- bzw. Studierfreiheit dar. Die Freiheit des Studiums dürfte auch das Recht umfassen, kraft eigener Entscheidung einer Universitätsveranstaltung fern zu bleiben und den Prüfungsstoff auf andere Weise zu verinnerlichen (vgl. dazu Epping, „Ist Dasein förderlich?“, WissR Bd. 45 [2012], 112). Zwar stehe diese Freiheit des Studiums explizit und von vornherein unter dem Vorbehalt der Studien- und Prüfungsordnungen. Jedenfalls sei auf Seiten der Studierenden jedoch das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG betroffen, da die Hochschulen nicht nur der Pflege der Wissenschaften dienten, sondern auch die Funktion von Ausbildungsstätten für bestimmte Berufe hätten (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 13.04.2010 – 1 BvR 216/07 -, BVerfGE 126, 1, und vom 26.06.2015 – 1 BvR 2218/13 -, NVwZ 2015, 1444; s. a. Art. 11 Abs. 1 LV).

Vorschriften, die für die Aufnahme des Berufs eine bestimmte Vor- und Ausbildung sowie den Nachweis erworbener Fähigkeiten in Form einer Prüfung verlangen, würden in die Freiheit der Berufswahl eingreifen und müssten deshalb den Anforderungen des Art. 12 Abs. 1 GG genügen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.04.1991 – 1 BvR 419/81, 1 BvR 213/83 -, BVerfGE 84, 34; stRspr; Niehues/Fischer/Jeremias, Prüfungsrecht, 6. Aufl. 2014, Rn. 3). Dies gelte namentlich für Studien- und Prüfungsordnungen, die nicht nur Voraussetzungen für den erfolgreichen Abschluss eines Studiums, sondern zugleich auch für die Aufnahme und die Ausübung eines Berufs formulieren. So sei die Erfüllung der Anwesenheitspflicht in Lehrveranstaltungen Voraussetzung für den Erwerb von Leistungsnachweisen und Kreditpunkten bzw. für die Zulassung zu Prüfungen, die für den Studienabschluss notwendig seien. Der Abschluss des Studiums sei wiederum Voraussetzung für die Aufnahme des angestrebten Berufs. Durch die Anwesenheitspflicht werde in die Freiheit der Berufswahl eingegriffen, da sie die Entscheidung des Einzelnen, einen Beruf zu ergreifen, vom Erwerb der Leistungsnachweise und der Kreditpunkte mittels Anwesenheit in Lehrveranstaltungen abhängig mache. Im Sinne der Stufenlehre des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfG, Urteil vom 11.06.1958 – 1 BvR 596/56 -, BVerfGE 7, 377 sowie Beschluss vom 18.12.1968 – 1 BvL 5/64 u. a. -, BVerfGE 25, 1; Jarass/Pieroth, GG, 14. Aufl. 2016, Art. 12 Rn. 33ff.) handele es sich um eine subjektive Berufswahlregelung, da den Studierenden der Zugang zu der von ihnen angestrebten beruflichen Betätigung aus Gründen erschwert oder unmöglich gemacht werde, die in ihrer Person zu finden seien: Die Voraussetzungen zum Abschluss des Studiums seien von den Studierenden in ihrer Person dadurch erfüllbar, dass sie in den Lehrveranstaltungen, bei denen die Anwesenheit Voraussetzung für den Erwerb der erforderlichen Kreditpunkte sei, auch tatsächlich anwesend seien.

Bei den Hochschullehrer*innen sei als Bestandteil des Kerns der Wissenschaftsfreiheit das Recht betroffen, ihr Fach in Lehre und Forschung zu vertreten, insbesondere über Inhalt, Methode und Ablauf der Lehrveranstaltung bestimmen zu können. Die Universität selbst sei in ihrer hochschulrechtlichen Satzungsautonomie betroffen, die von der Wissenschaftsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 Satz 1 GG umfasst werde.

Vor dem Hintergrund dieser Betroffenheit dreier Grundrechtsträger*innen werde die angegriffene Regelung den Bestimmtheitsanforderungen nicht gerecht. Für die Präsenzpflicht sei schon die Formulierung missglückt, denn eine Pflicht könne nicht eine Studienleistung darstellen, allenfalls die Erfüllung dieser Pflicht. Aber auch der Begriff der Teilnahme sei völlig konturenlos und stelle die Erfüllung von Teilnahme und Präsenzpflicht völlig in das Ermessen der Dozenten. Die Regelung lasse nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen die Studienleistung der Präsenz resp. Teilnahme als „nicht bestanden“ angesehen werden könne, ob eine Mindestpräsenz verlangt werde oder schon ein einmaliges Fehlen zum Nichtbestehen führen könne. Ein weiteres Regelungsdefizit betreffe die Rechtsfolgen von Fehlzeiten aus wichtigem Grund, etwa Krankheit.

Nach hiesiger Auffassung wird man gegen eine Verweigerung von Anerkennungen des Bestehens von Lehrveranstaltungen allein aufgrund fehlender Präsenz mit diesem Urteil auch in anderen Bundesländern und anderen Universitäten, deren Studien- und Prüfungsordnungen vergleichbare Mängel haben, eine brauchbare Abwehrgrundlage finden, etwa wie im oben genannten Beispiel des Monobachelors Politikwissenschaften an der FU Berlin. Eine klare gesetzliche Regelung wir in § 64 Abs. 2a Landeshochschulgesetz NRW, in der die „Präsenzpflicht“ auf wenige nachvollziehbare Lehrveranstaltungsarten beschränkt wird, wäre auch in Berlin wünschenswert.

Rechtsanwältin Martina Zünkler – Berlin 10.11.2018

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